„On the go“ – Circus Charivari auf Reisen

Unsere Circus-Abteilung kann auf ein wunderschönes und erlebnisreiches Jahr zurückblicken. Das Herzstück unserer diesjährigen Circus-Arbeit war das Projekt „On the go“. 20 junge Artisten aus fünf verschiedenen Charivari-Gruppen haben gemeinsam mit 6 Musikern und 2 Licht-und Tontechnikern, allesamt im Alter von 12 bis 18 Jahren, ein Stück auf die Beine gestellt, das hunderte von Zuschauern zu Begeisterungsstürmen hinriß. An zwei Probenwochenenden in der Parketthalle im April und Mai verschmolzen alle zu einer beeindruckenden Gemeinschaft, die dann an Pfingsten für eine Woche ins Trainingscamp zu unserem dänischen Partnercircus „Stjerneskud“ reiste. Alle Erfahrungen dieser Reise flossen in das Stück, so handelte es von Zügen, Bussen, Schiffen, vom Unterwegssein, vom Fremdsein, vom Ankommen. Martin Herrmann komponierte die Musik dazu und passte sie im Lauf der Proben täglich an die sich stetig verändernden Circusnummern an: ein beeindruckender Prozess. Regie führten Ea und Trix . Jürgen, ein Circus-Papa und eine Susanne, eine Circus-Mutter sorgten rund um die Uhr für das kulinarische Wohl von insgesamt 34 Leuten! Auf engstem Raum kamen wir uns alle sehr sehr nah, und diese Dichte wurde auch in dem Stück spürbar. Morgens um 8 Uhr verließen wir die wohlige Wärme der Schlafsäcke, um uns in der Bucht von Sandvig bei 11 Grad Wassertemperatur unter großem Geschrei in die Fluten zu stürzen. Danach waren alle wach und bereit, bis zum Abend zu proben. Das Bornholmer Fernsehen drehte eine Reportage über uns, die Charivaris gaben Interviews für die Lokalpresse, und Mitglieder des dänischen Partnercircusses kamen zur Premiere. Zurück in Lübeck gaben wir dann in der Parketthalle vier wunderschöne und sehr gut besuchte Vorstellungen. Zuvor hatten wir erfahren, dass wir dank unserer vielen Unterstützer (danke an alle aus unserem Verein, die für uns gestimmt haben!!!) bei der Aktion „200000 für zehn“ der Sparkassenstiftung doch tatsächlich den 1.Platz gemacht haben. Somit wurden wir mit einem großen Medienecho und mit einer Fördersumme von 20000 Euro bedacht, um unser Projekt im Herbst fortsetzen zu können. Das Stück ging in die Sommerpause, die Circusdirektorinnen machten sich wieder ans Organisieren. Im Herbst stellten wir an einem Probenwochenende noch einmal das Stück etwas um, viele Artisten wurden zu „Amphibien“, die auf der Bühne und in der Band beheimatet waren und zwischen diesen beiden Säulen von „On the go“ nur so hin und her sprangen. Nach zwei weiteren gefeierten Vorstellungen in der Parketthalle waren wir dann bereit zum Aufbruch zur großen Herbsttournee. Wir hatten mit „Nordic Aktiv Reisen“ ein wunderbares Busunternehmen aufgetan, dessen Busfahrer Ingo die Herzen der Charivaris im Sturm eroberte. Schon die Hinfahrt in die Niederlande mit 18km Stau bei Hamburg war eine echte Herausforderung, doch es herrschte beste Laune an Board des Busses, wir feierten auch noch ausgelassen unser Geburtstagskind Eva, und Ingo ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Spät nachts kamen wir in Amersfoort an, mussten sogleich noch den Bus ausladen und die ganzen Luftaufhängungen im Circus-Haus vornehmen, so dass erst gegen 1 Uhr 30 an Schlaf überhaupt zu denken war. Am nächsten Morgen mussten wir sogleich die Manege räumen, um Platz zu machen für etwa hundert niederländische Circus-Kinder, die in einzelnen Gruppen dort bis zum frühen Nachmittag trainierten. Wir verzogen ins Nachbargebäude, eine Halle, in der fast rund um die Uhr Kindergeburtstage und Veranstaltungen stattfanden und in der unsere Tourneeköche (Sabine, Rainer und Jakob, das flexibelste Küchenteam der Welt) in einer Nische drei Tage lang für uns herrliche Mahlzeiten hervorzauberten. Nachdem wir die hübsche und sehr gemütliche Altstadt von Amersfoort erkundet hatten, machten wir uns an die Vorbereitungen für erste Vorstellung. Flo, Peter und Lilli installierten Licht und Ton und machten den Soundcheck, die Artisten stellten das Stück auf die örtlichen Gegebenheiten um, wärmten sich auf, probten Umbauten, dann ging es ans Schminken, Zöpfe flechten, einspielen… Showtime. Das Circushaus war rappelvoll, und wir bekamen Applaus ohne Ende. Besonders beeindruckt waren die niederländischen Trainer und Zuschauer von unserem Johann, der Trisomie 21 hat und ein phantastischer Turner und Einradfahrer ist. Im Circus Amersfoort trainieren zwar auch viele Kinder mit Behinderung, allerdings in separaten Gruppen. Unser Stück hat viele der Niederländer vom Gedanken der Inklusion überzeugt. Die Mutter eines Trisomie-Kindes sprach mich an und sagte mir, dass ihr Kind nun auch mal in einer Gruppe mit nichtbehinderten Kindern trainieren sollte. Und sie machte ordentlich Werbung für uns, so dass am nächsten Tag bei unserer Mittagsvorstellung unter anderem ganz viele Kinder mit Behinderung und ihren Eltern kamen. An diesem Tag feierten wir auch Julias Geburtstag mit viel Kuchen und Gesang, und nachmittags gab es viele Spiele und Workshops gemeinsam mit den niederländischen Circus-Schülern. Das Haifisch-Spiel der Niederländer und unser Lieblingsspiel „Mac Donalds“ waren wunderbare Eisbrecher, innerhalb von wenigen Minuten sind alle miteinander warm geworden. Es wurde gemeinsam gespielt, gelacht, trainiert, und so sind sogar Freundschaften entstanden. Die Charivaris konnten zwei Circus-Techniken kennenlernen, die bei uns nicht unterrichtet werden: Chinesischer Mast und Schleuderbrett. Gemeinsam mit den Niederländern wurde aber auch Akrobatik gemacht und Seil getanzt. Wir freuen uns schon auf einen Gegenbesuch der Amersfoorter und gemeinsame Workshops, diese Circus-Freundschaft wird halten, da sind wir uns ganz sicher!

Von Amersfoort ging die Reise weiter nach Luxemburg ins beschauliche Städtchen Mersch. Dort erwartete uns großer Luxus und ein herzlicher Empfang. Hatten wir uns in Amersfoort mit 34 Leuten zwei Toiletten und eine Dusche geteilt und alle gemeinsam in einem großen Raum geschlafen, standen uns im Internat des Lyzeums Ermesinde 15 Zimmer jeweils mit Bad zur Verfügung, außerdem ein professioneller Veranstaltungssaal mit einem fast schon glamourösen Backstagebereich und eine Trainingshalle für Circus-Profis. Wir konnten erstmal nur staunen und fühlten uns zunächst seltsam verloren, weil alles so groß war, als Gruppe mussten wir uns erst einmal wieder finden. Dies gelang aber wieder auf wunderbarste Weise. Kaum hatten wir alles ausgepackt, eingerichtet, die Umbauten und Bühnen-Auf-und Abgänge geprobt, stellte sich auch das Gemeinschaftsgefühl wieder ein und wir gaben in dem tollen Saal für 180 Schüler eine schöne Vorstellung. Der Applaus war anfänglich noch etwas verhalten, am Ende aber umso kräftiger, und Marc, ein luxemburgischer Circus-Pädagoge moderierte im Anschluss auf offener Bühne einen netten Dialog zwischen Charivaris und Zuschauern. Am nächsten Tag konnten sich alle im gemeinsamen Training in der Circus-Halle der Superlative noch viel besser kennenlernen. Zur abendlichen Vorstellung kamen Jugendliche vom Circus Zaltimbanq aus Luxemburg Stadt. Sie waren natürlich ein eher kritisches Publikum, fanden unser Stück zum Teil zu lang, waren aber beeindruckt von der engen Verzahnung von Artistik und Musik und den vielen Bildern. Eine Erzieherin aus dem Internat war zutiefst berührt, da unsere Gemeinschaft in dem Stück so spürbar war. Ein wenig Kulturprogramm haben wir auch noch mitgenommen. So haben wir in Kleingruppen Luxemburg-Stadt erkundet und gemeinsam mit dem luxemburgischen Organisator Marc eine alte Schloßruine besichtigt.Der Abschied fiel schwer, aber das war bestimmt nicht das letzte Zusammentreffen mit den lieben Luxemburgern, wir bleiben in Kontakt!

An der Mosel entlang fuhren wir dann weiter zu unserem letzten Tourneeort: Saarbrücken.

Hier hieß es wieder zusammenrücken. Wir lernten das echte Circus-Leben mit Zelt und Wägen kennen. Unser Küchenteam konnte sich wieder in der Disziplin „Kochen ohne Küche“ bewähren. Sie zogen in einen alten ausrangierten Circuswagen, stellten zwei Biertische auf, schlossen die mitgebrachten Kochplatten an und holten Wasser mit Kanistern aus dem WC-Wagen und verwöhnten wieder das ganze Team mit wunderbaren Speisen. Alle schliefen in der Manege, und wir waren nachts froh, dass unsere herzlichen Gastgeber vom Zirkus Kokolores für uns die Zeltheizung angeworfen hatten. Außerhalb von Saarbrücken gaben wir eine Schulvorstellung in einer Gemeinschaftsschule. Hier zeigte sich, dass wir schon ein sehr eingespieltes Team waren. Trotz minimaler Vorbereitungs-und Einrichtungszeit und trotz krankheitsbedingtem Ausfalls einer Artistin und Musikerin funktionierten die Charivaris wie ein Uhrwerk, einer sprang für den anderen ein. Man kann wohl sagen, dass sie spätestens da über sich selbst hinaus wuchsen und entsprechend auch 150 Schüler und Lehrer mitreißen konnten. Abends beim Kennenlernen der saarländischen Circus-Schüler merkten wir, dass sie dort ein ganz ähnliches Verständnis von Circus und Gemeinschaft haben wie wir. Die Integration von Flüchtlingen und von Menschen mit Behinderung war dort ebenso selbstverständlich wie bei uns. Wir hatten viel Spaß bei einem Feuerworkshop. Und es war ein Geschenk, dass wir die letzte Vorstellung von „On the go“ im Circuszelt vor hundert begeisterten Zuschauern geben konnten. Das war eine Circusatmosphäre, die Gänsehaut verursachte. Natürlich flossen nach der Derniere auch viele Tränen. Wir hatten dieses Stück so lieb gewonnen, es hat uns zusammen geschweißt und uns von Bornholm über Lübeck, die Niederlande und Luxemburg bis ins Saarland gebracht. Dieses Projekt hat uns allen unendlich viele Erlebnisse und neue Freundschaften beschert, und es hatte eine Intensität, die zuweilen atemberaubend war. In Luxemburg hat uns leider Hals über Kopf unser Bandcoach Martin verlassen, da sich zu Hause in Lübeck sein erstes Kind unerwartet früh auf den Weg gemacht hatte. Wir verbrachten den ganzen Tag damit, gute Gedanken nach Lübeck zu schicken und uns Namen auszudenken (wir einigten uns auf Benjamin, es wurde aber ein David:) und natürlich widmeten wir diesem Kind am Abend unsere Show. Unsere Bassistin Marike und unser Tontechniker Florian übernahmen das Coaching der Band und es war höchst beeindruckend, wie alle nach dem Motto „Jetzt erst recht“ einfach alles gaben und sich die Band nochmal ganz enorm steigerte. All das für „Benjamin“ und für den Circus Charivari. Die Mitglieder der Circus-Band meinten : „ Schlagzeuger wird der Junge schon mal nicht, der hat ein schlechtes Timing“, aber die Artisten meinten, für den Circus hätte er sich schon qualifiziert, da bräuchte es spontane und schnelle Typen:) So hat Martin ihn denn nun auch gleich auf die Warteliste für den Circus gesetzt: ein Charivari mehr.

Sehr erschüttert haben wir die Nachricht aufgenommen, dass es seit letzter Woche auch einen Charivari weniger gibt. Jürgen, unser herzensguter Circus-Koch, der uns auf Bornholm im Trainingscamp eine ganze Woche lang mit wunderbarem Essen verwöhnt hat, hat seine letzte Reise angetreten. Wir trauern um ihn und werden ihn nie vergessen. Wie nah doch Freud und Leid zuweilen beieinander liegen. Wir sind dankbar, dass wir in unserem Circus eine Gemeinschaft haben, die Freud und Leid teilen kann, eine Gemeinschaft die trägt und die bestimmt auch in der Zukunft noch viele Menschen integrieren, berühren, mitnehmen und erfreuen kann.

Trix Langhans

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