Seit vielen Jahren unterhält unser Circus eine Partnerschaft mit den Nafsi Africa Acrobats. Im September sollten sie zum ersten Mal nach der langen Corona-Zeit wieder unsere Gäste sein. In wochenlanger Arbeit hatten wir ein Programm ausgearbeitet und Finanzanträge gestellt, die Einladung geschrieben, die Tour für die fünf kenianischen Artist*innen geplant. Über den Paritätischen Landesverband erhielten wir Landesmittel aus dem Programm „Aufholen nach Corona“, und auch die Drägerstiftung gab Fördermittel für dieses vielversprechende Projekt. Alles war vorbereitet, doch dann scheiterte unser Vorhaben an der restriktiven Ausländerpolitik unseres Landes. Die Einladung, der Nachweis der Fördermittel und des ausgearbeiteten Programms reichten nicht aus, gefordert wurde eine Verpflichtungserklärung, mit der wir fünf Jahre lang für alle Eventualitäten hätten haften müssen, und der zweite Vorsitzende unseres Fördervereins sollte gar als Bürgschaft den Kaufvertrag seines Eigenheims zum Termin bei der Ausländerbehörde mitbringen. Da dies natürlich absolut unzumutbar war und die Botschaft in Nairobi ohne diese Dokumente die Ausgabe der Visa verweigerte, waren unsere langjährigen kenianischen Freunde gezwungen, die Flüge wieder zu stornieren und auf ihre lange geplante Tournee zu verzichten.
Wir wiederum hatten ein komplett ausgearbeites und finanziertes deutsch-afrikanisches Begegnungsprojekt …ohne afrikanische Artisten. Durch einen glücklichen Zufall ließ die von mir kontaktierte Kinderkulturkarawane, über die wir zuletzt 2019 die Nafsi Africa Acrobats eingeladen hatten, verlauten, dass sie zwar so kurzfristig die Nafsis nicht einladen könnten, dass sie aber im selben Zeitraum noch Gastgeber für eine Gruppe aus Tansania suchten.
So kamen wir nach all den Aufregungen in die sehr glückliche Situation, neun Tage lang Gastgeber zu sein für sechs Artist*innen des Kigamboni Community Center aus Dar es Salaam/ Tansania. Wir erlebten ein bewegendes und bereicherndes Begegnungsprojekt, das für viele unserer Kinder und Jugendlichen mit Sicherheit nachhaltig prägend war.
Das Projekt begann mit zwei Vorstellungen am 18. und 19. September in unserer Arnold Falk Halle. Den ersten Teil unseres Programms gestalteten sechs unserer Charivaris, die an beiden Tagen die vollbesetzte Halle zum Toben brachten. Ob mit Diabolo oder Keulen, am Luftring, auf dem gespannten Seil oder mit Einrad und Leiter auf dem hohen Schlappseil, die sechs Charivaris sorgten für Begeisterungsstürme und ausgelassene Freude. Nach einer kurzen Pause dann das Kontrastprogramm: die sechs tansanischen Artist*inen transportierten ein Stück Lebensrealität und zeigten uns, dass Circus auch ernste und bedrückende Themen eindrucksvoll auf die Bühne bringen kann. Ein Vater kann seine Familie nicht mehr versorgen und muss in die Fremde ziehen, um dort Geld aufzutreiben. Der Sohn fehlt zu oft in der Schule und wird daraufhin von der Schule ausgeschlossen, doch ohne Bildung hat er erst recht keine Zukunft.Die Mutter ist schwanger und droht ohne medizinische Versorgung zu sterben. Harte, beklemmende und realistische Themen, die die jungen Artist*innen äußerst eindringlich und überzeugend auf die Bühne brachten. Gottseidank endet das Stück gut, der Mutter wird geholfen, der Vater kehrt zurück und sie alle feiern das Leben mit noch einmal spektakulärer Akrobatik und temperamentvollem Tanz.
Auch die jungen Artist*innen selber haben glücklicherweise dank des Kigamboni Community Centers, einer großen kirchlichen Einrichtung in Dar es Salaam, bessere Lebensperspektiven bekommen. Und so wurde vom begeisterten Publikum freudig gespendet für dieses großartige Projekt. Eine weitere Vorstellung fand in der Geschwister Prenski Schule statt, im Anschluss konnten hunderte von Schüler*innen Fragen stellen und Spannendes erfahren über die tansanischen Gäste. In Zusammenarbeit mit dem Verein „Kultur im Quartier“ gaben die Kigamboni-Künstler*innen am Wochenende darauf auch noch zwei Open-Air-Vorstellungen auf dem Kücknitzer Kirchplatz und im Lunapark. Auch hier gab es frenetischen Applaus.
Für unsere Charivaris war es großartig, dass die Kigambonis vier Nachmittage lang Workshops bei uns gaben. Zum einen konnten sie die auf der Bühne erlebten Artist*innen so noch viel näher kennenlernen, zum anderen konnten sie in kürzester Zeit ganz viel Neues lernen. Ein Hauch von Afrika wehte die ganze Woche lang durch unsere Hallen, und alle Charivaris lernten afrikanischen Tanz, trauten sich viel mehr zu als je zuvor in der Bodenakrobatik und bauten gemeinsam mit den Kigambonis die höchsten Menschenpyramiden. Eine sehr ergreifende Feedbackrunde ( Englisch-Deutsch-Suaheli) am letzten Tag zeigte uns einmal mehr, wie wichtig gerade in den heutigen Zeiten solche Begegnungsprojekte sind. Alle haben etwas für sich mitgenommen, jede*r einzelne war inspiriert durch die Begegnung, wir konnten voneinander und miteinander lernen, und es sind Freundschaften entstanden.
Ein besonderer Dank gilt allen Gastfamilien, die die sechs Kigamboni und ihren österreichischen Tourbegleiter so liebevoll bei sich aufgenommen haben.
Wir sind nun um eine Circus-Freundschaft reicher, die gleich dadurch vertieft wird, das wir Kassim, einen der Artisten, der nun ein Freiwilligen-Jahr in Salzgitter absolviert, für das Probenwochenende der Projektgruppe engagieren können. Einer unserer Charivaris möchte im nächsten Jahr nach seinem Abitur nach Tansania reisen. Andere schreiben sich jetzt intensiv mit den tansanischen Jugendlichen.
Natürlich hoffen wir, dass die ganze Gruppe einmal wieder kommen wird. Und auch, dass es irgendwann eine Chance gibt, auch die Nafsi Africa Acrobats aus Kenia wiederzusehen.
Die Mauern in unseren Köpfen können nur eingerissen werden, wenn wir Begegnungen zulassen und ermöglichen. Der Angst vor Überfremdung kann nur entgegen gewirkt werden, wenn wir die Fremden kennenlernen. Nichts erweitert den Horizont so sehr wie ein Blick über den Tellerrand.
Ich bin froh und dankbar, dass wir allen Widrigkeiten zum Trotz solch ein Projekt auf die Beine stellen konnten und bin stolz auf die Charivaris, die ihre Häuser, ihre Halle und vor allem ihre Herzen geöffnet haben für Kassim, Najma, Emilias, Magret, Shafi und Richard. Für Menschen, die uns fremd waren und es heute nicht mehr sind.
Trix Langhans