Die Welt zu Gast beim Circus Charivari

Aus der Beobachtung heraus, dass in unserer Gesellschaft die Angst vor Überfremdung zunimmt und zugleich immer mehr Flüchtlinge aus aller Welt zu uns kommen, hatten wir im Frühjahr ein großes Projekt angekurbelt, das mit einer bewegenden Benefiz-Circus-Vorstellung am 13.6. seinen Höhepunkt fand. Vieles lief anders als geplant, und doch war alles genau richtig.
Ursprünglich war der Plan, am 6. und 7. Juni je 20 Flüchtlingskinder aus den Wohnheimen der Gemeindediakonie zu uns in die Lübeck 1876-Hallen einzuladen, ihnen von Seiten der Charivaris Paten an die Seite zu stellen, ihnen Circus-Kunststücke beizubringen und sie dann in die große Benefiz-Gala am 13.6. mit einzubinden. Acht Charivari-Gruppen hatten seit Wochen an verschiedenen Nummern gearbeitet, Intro und Finale hatten wir so choreographiert, das man sie gruppenweise proben und dann gemeinsam mit den Flüchtlingskindern zu einem Ganzen zusammenfügen konnte. Angedacht waren zusätzlich zwei Nummern, die die Gastkinder mit ihren Paten gemeinsam gestalten sollten. Alles war vorbereitet…, nur kamen zunächst keine Anmeldungen.
Als wir eine Woche vor dem Circus-Workshop nur 5 angemeldete Flüchtlingskinder hatten und auf der anderen Seite mehr als 70 Charivaris, die gerne Paten und Helfer sein wollten, sahen wir uns zum Handeln gezwungen. Wir beschlossen, das geplante Workshopwochenende auf nur einen Mitmach-Circus-Tag zu beschränken und kontaktierten nochmal jedes Wohnheim einzeln, ob nicht doch jemand Lust hätte, suchten Busverbindungen heraus, bereiteten Paten und Eltern vor, enttäuschten andere, die auch noch hätten helfen wollen, mit Absagen… Drei Tage vor dem Circus-Tag hatten wir auf einmal 40 Anmeldungen. Sechs Kinder standen plötzlich schon am Donnerstag vor der Tür. Weitere sieben kamen mit Eltern und Geschwistern versehentlich schon am Samstag, wo sie von einer eilig herbeigeeilten Circus-Direktorin begrüßt und mit diversen Circuskünsten vertraut gemacht wurden. Am Sonntag dann kamen zur verabredeten Zeit zunächst nur um die 20 Kinder, weitere 10 standen dann auf einmal eine Stunde später in der Tür. Sehr schnell stellte sich heraus, dass wir mit unserer Struktur (6 Circus-Stationen zum Kennenlernen je 10 Minuten lang, dann Wechsel im Uhrzeigersinn, begleitet durch die jeweiligen Paten) grenzenlos naiv waren. Viele Kinder gerieten schon beim Anblick der großen Halle ganz aus dem Häuschen, rannten hierhin und dorthin, außer sich vor Freude und völlig außer Stande unser System zu durchschauen und anzunehmen. Teil zwei des Tages (nach dem Mittagessen gezieltes Üben in einer Circus-Disziplin, danach Einstudieren der Nummern und des Intros/Finales) lief entsprechend noch unrunder. Viele Kinder waren schon völlig erschlagen von den vielen Eindrücken, erschöpft oder sehr aufgedreht, außer ein paar Pyramiden und dem Finale lag wirklich nichts mehr drin.
Am Tag der großen Vorstellung dann erschienen nur 12 der Workshopkinder (diesmal eine Stunde vor der verabredeten Zeit), brachten dafür aber noch ein paar andere Kinder mit, die wir noch nie gesehen hatten, die aber unbedingt mit auftreten wollten. So wurde dann schnell noch etwas geprobt. In der Zeitung stand, dass 40 Flüchtlingskinder das gesamte Circus-Programm bestreiten. Nein, dem war nicht so. Ist unser großes Integrations-Projekt daher gescheitert? MITNICHTEN!
Es war das Schönste und Aufregendste, was wir seit langem erlebt haben.
Sowohl beim Workshop-Tag als auch bei der Vorstellung gab es unzählige sehr berührende Momente. Selten haben wir in soviele strahlende Augen geblickt. Unsere Gäste, sowohl die Kinder als auch die vielen begleitenden Eltern, waren unendlich dankbar und begegneten uns mit derselben Offenheit und Herzlichkeit, mit der wir ihnen begegneten. Einige sprachen schon richtig gut deutsch, mit anderen kommunizierten wir mit Händen und Füßen. Es ist faszinierend, was für einen hohen Aufforderungsfaktor Circus hat, alles wurde ausprobiert, angefasst, kennengelernt, und man sah sogar die Erwachsenen Tellerdrehen…
Was machte es da schon, dass nicht alles (oder sogar fast nichts) nach Plan lief ? War nicht der wichtigste Punkt erfüllt? Dass unsere Gäste sich herzlich willkommen fühlen konnten und wir feststellen durften, dass die Fremden einem gar nicht so fremd sind, wenn man sie erstmal kennengelernt hat und dass dieses Kennenlernen dank des Circus, dank des gemeinsamen Tuns sogar unendlich einfach ist.
Und zeigt es nicht genau, wie es nun mal eben ist mit diesen Flüchtlingen? Sie kommen nicht in der Anzahl und zu der Zeit, die wir für sie vorgesehen haben. Sie kommen einfach, wenn sie kommen und stehen vor unserer Tür. Wir können nicht erwarten, dass sie unsere Vorstellung von Ordnung und Zeit kennen, aber wir können sie einladen und da abholen, wo sie sind. Wir können sie vertraut machen mit unserer Welt und wir können sie ein Stück Weg begleiten.
Somit war dieses Projekt zwar zuweilen für uns organisatorisch aufwendig, zwischenmenschlich aber unglaublich einfach und immer wieder herzerwärmend.
Viele viele Menschen haben zum Erfolg unseres Projektes beigetragen. Unsere Vereinsgastronomie spendete das Mittagessen für alle Flüchtlingskinder und ihre Eltern. Die Charivari-Eltern stellten wunderbare Obst-und Kuchenbuffets zusammen. Andere transportierten Requisiten, flochten Zöpfe, bauten auf und ab. Das Jugendzentrum Burgtor und die Firma iventcon stellten uns das Ton-Equipment zur Verfügung, unser bewährter Tontechniker Peter lotste uns souverän durch die ganze Vorstellung. Man hatte das Gefühl, Teil einer großen Familie zu sein, und die Flüchtlinge waren mitten drin. Die Charivaris glänzten bei der Vorstellung in ihren Nummern und transportierten pure Lebensfreude, alle applaudierten frenetisch, als die Flüchtlingskinder am Tuch, am Trapez und auf den Fässern turnten, und es gab wohl kaum jemanden in der großen vollbesetzten Sporthalle, der nicht Tränen in den Augen hatte, als ein albanischer Junge im Rollstuhl außer sich vor Freude einen Jonglierring um seinen linken Fuß kreisen ließ. Wir durften viel lernen, und wir sind noch lange nicht fertig damit. Dieses Projekt war erst der Anfang. Die Welt braucht keine Angst, keine Abschottung, vielleicht braucht sie einfach nur ein bißchen mehr Circus.

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