Nachdem im September die jüngeren Charivaris beim Karlshofer
Kinderfest einen leicht chaotischen aber sehr fröhlichen Auftritt
hingelegt hatten, folgte die Wiederaufnahme unseres Stücks „Pages-
A Circus Library“. Das Publikum war begeistert, die Parketthalle
platzte aus allen Nähten und viele Zuschauer, die das Stück bereits
im Juni gesehen hatten, bemerkten, dass es sich weiterentwickelt
hatte, dass es gereift war und definitiv bereit war, auf große
Auslandsreise zu gehen. Am 3. Oktober traf unser bewährter Busfahrer
Ingo (von Nordic Aktiv Reisen) bei uns ein und stellte mal wieder
unter Beweis, dass ihn nichts aus der Ruhe bringen kann, schon gar
nicht die Unmengen an Instrumenten, Requisiten, Lichtampeln und
unhandlichen Gegenständen, die wir in seinem Bus nebst Anhänger zu
verstauen gedachten. Es passte tatsächlich alles hinein, auch wenn
es viel Geschick und vor allem Geduld brauchte. Wir sollten auf
dieser Tournee noch fünf weitere solche Packaktionen haben.
Voller Vorfreude und Aufbruchstimmung ging es gen Norden, wo wir am
späten Nachmittag in Gellerup, einem tristen Vorort von Aarhus
eintrafen. Die Gastgeber, der Cirkus Tvaers, begrüßten uns herzlich
und staunten sogleich über die gut organisierten Auslade-Ketten: was
für eine Disziplin! Kaum waren die Küchensachen im zweiten
Stockwerk des Gebäudes angekommen, begann unser phantastisches
Küchenteam mit der Vorbereitung des Abendessens, kaum war das
Bandequipment im beeindruckenden Theatersaal angelangt, begann schon
der Aufbau und die Verkabelung der Band, um bereit zu sein für den
ersten Soundcheck, und die Artisten installierten mithilfe
beeindruckender Hebebühnen Trapeze, Luftring und Vertikaltücher. In
einer aufwändigen Stellprobe machten wir uns mit den Gegebenheiten
des Theaters vertraut, passten das Stück an und ließen uns
zwischendurch kulinarisch verwöhnen. Vom ersten Tag der Tournee an
funktionierten alle wie ein Uhrwerk, und es war eine helle Freude,
diese großartige Zusammenarbeit aller Beteiligten Tag für Tag mit
zu erleben. Am nächsten Morgen hieß es früh aufstehen, denn es war
eine Schulvorstellung angesetzt. Mitten im sozialen Brennpunkt
angesiedelt waren wir auf ein sehr unruhiges Publikum eingestellt,
aber unsere Truppe konnte alle begeistern und bis zur letzten Minute
fesseln. Wir bekamen sehr wertschätzendes Feedback und langen
Applaus. Am Nachmittag trafen wir uns in den angrenzenden
Räumlichkeiten des Cirkus Tvaers mit Jugendlichen aus dem
Stadtviertel. So gut wie alle hatten einen Migrationshintergrund und
ein Leben, das weit von der Lebenswirklichkeit unserer Jugendlichen
entfernt lag. Dennoch verwischten die Unterschiede und das Fremdsein
innerhalb von Minuten, sobald wir miteinander in Bewegung kamen.
Baraa, ein gebürtiger Libanese, gab uns einen HipHop-Workshop und
alle tanzten ausgelassen miteinander, anschließend ging es mit
Bodenakrobatik und Jonglage weiter. Die Trainer des Cirkus Tvaers
staunten über unsere hochmotivierten Jugendlichen, es wurden
Flikflaks und Salti gesprungen und Clara schaffte sogar einen
Handstand auf den Händen von Khaled, dem stärksten Akrobaten des
Cirkus Tvaers.
Am Nachmittag rückten drei energische bekopftuchte Frauen an,
belegten die Küche und zauberten ein palästinensisches Buffet für
uns. Viele der Speisen hatten wir noch nie zuvor gegessen, es war
wirklich ein Festschmaus der Spitzenklasse!
Am nächsten Morgen bekamen wir eine Führung durchs „Ghetto“:
Hochhäuser und Beton soweit das Auge blickte, dazwischen ein paar
eher zweifelhafte Versuche, die Tristesse des Stadtteils zu
durchbrechen, wir hatten interessante Einblicke in Sozialpolitik und
halbherziges Krisenmanagement. Ein Besuch im Basar des Viertels
versetzte uns schlagartig in eine andere, eine orientalische Welt.
Nachmittags gaben wir eine öffentliche Vorstellung im Theater, die
begeistert aufgenommen wurde. Abends bedankten wir uns mit einer
Singerunde und Marzipan bei unseren tollen Gastgebern.
Am nächsten Tag hieß es leider sehr früh aufstehen, da ja wieder
alles verpackt und verladen werden musste. Dies wurde der stressigste
Tag der Tournee. Nach zweieinhalb Stunden Fahrt erreichten wir
Odense, wo wir beim Cirkus Flikflak sogleich alles ausladen und
sofort in die Showvorbereitung gehen mussten. Es war gar nicht
leicht, eine Installationsmöglichkeit fürs Schlappseil zu finden
und auch die Luftaufhängungen waren kompliziert. Wieder musste
einiges umgestellt werden, viele waren auch ganz schön übermüdet,
und der Publikumseinlass rückte näher und näher… Dennoch
schafften wir es, pünktlich zu beginnen und unser Stück vor vollem
Saal zu spielen. Dies war sicher nicht unsere beste Vorstellung, und
das Publikum war hier auch sehr unruhig, aber es gab nette
Begegnungen, ein gemeinsames Abendessen mit den Dänen und hinterher
reichlich Spaß mit den vielen lustigen Geräten und Fahrzeugen des
Cirkus Flikflak. Am nächsten Morgen hieß es schon wieder Packen und
Weiterfahren.
Beeindruckend war die Fahrt über Storebelt und Öresund und unsere
Ankunft in Malmö, wo wir in einem historischen Circus-Gebäude
untergebracht waren und dort auftraten: ein Rundbau mitten in einem
beeindruckenden Park, Circus-Feeling pur!
Zunächst einmal aber liefen wir zur Cirkusskola Malmö, wo wir ein
tolles gemeinsames Training mit den Schweden hatten. Die
Show-Vorbereitung nahm am nächsten Tag viel Zeit in Anspruch, aber
sie hat sich wirklich gelohnt. Am Abend gaben wir im Manegenrund vor
vollem Haus unsere Vorstellung, die von den Schweden wirklich
bejubelt wurde. Unsere „Circus-Sprache“ schien sie sehr
anzusprechen, und sie zeigten uns unglaubliche Wertschätzung.
Am nächsten Morgen mussten alle wieder sehr früh aufstehen, da
wieder eine Schulvorstellung anstand. Als wir feststellten, dass es
sich beim Publikum nicht um Schulkinder sondern um mehrere
Kindergartengruppen handelte, kürzten wir das Stück noch etwas und
stellten um, um uns an das junge Publikum anzupassen. Nun waren wir
sehr gespannt, wie unser Stück wohl auf so junge Zuschauer Kinder
wirkt, und auch das war wirklich herzerwärmend. Die kleinen Kinder
gingen so richtig mit, und es war ein ganz besonderer Morgen in
diesem schwedischen Circus- Gebäude!
Nachmittags gab es endlich einmal Freizeit und alle erkundeten in
Kleingruppen Malmö, anschließend gab es einen Massageworkshop bei
Rike. Abends trainierten wir wieder gemeinsam mit den Schweden in der
Circus-Schule. Die Richtlinien für den Abend lauteten: jeder lernt
mindestens einen der Anderssprachigen namentlich kennen, jeder bringt
jemandem mindestens ein Kunststück bei und jeder lernt mindestens
ein neues Kunststück. Dieses Konzept war ein voller Erfolg. Schon
nach kürzester Zeit meldeten mir einige, dass sie bereits drei neue
Abfaller am Tuch gelernt hätten, andere, dass sie einigen Schweden
schon lauter neue Luftringtricks gezeigt hätten, bei den
Partnerakrobaten bildeten Schweden und Deutsche beeindruckende
Pyramiden und es wurden Freundschaften geknüpft. Viele schreiben
sich jetzt auch weiter, und die Schweden baten uns, dass wir doch
unbedingt mal ein gemeinsames Trainingscamp veranstalten sollten. Das
werden wir definitiv mal planen!
Der letzte Tourneestop Simrishamn war mit Abstand der schönste Ort,
ein richtiges Idyll, das uns aber leider mit äußerst schlechtem
Wetter empfing. Dafür strahlten die Mädchen aus der „Kulturskola“
um die Wette und hießen uns sehr herzlich willkommen. Leider mussten
hier unsere beiden Vorstellungen an unterschiedlichen Orten
stattfinden, was uns eine zusätzliche Packaktion und vor allem einen
zusätzlichen kräftezehrenden Aufbau und Stellprobe bescherte.
Dennoch waren beide Vorstellungen einfach zauberhaft. In Kivik
brachten wir eine ganze Schule dazu, jetzt auch Circus zu machen, die
Kinder waren absolut entzückt von unserem Stück, tauchten ein in
unsere Bücherwelt und waren unendlich dankbar, dass wir mitten im
Herbst in ihr sehr verschlafenes Nest gekommen waren. Wie durch ein
Wunder brach mittags der Himmel auf, und wir konnten unser
Mittagessen draußen an einer idyllischen Bucht einnehmen, danach
hieß es schon wieder packen und neu aufbauen in der Halle in
Simrishamn.
Nach einem Tag mit gemeinsamen Spielen und Workshops mit schwedischen
Circus-Schülern, die aus vier Orten im Umkreis von hundert
Kilometern gekommen waren, um mit uns zu trainieren, gaben wir dann
unsere allerletzte Vorstellung von „Pages- A Circus Library“.
Diese Derniere war so ziemlich das Schönste, was ich in meiner
ganzen langjährigen Circus-Zeit erlebt habe. Unsere 30 Artist*innen,
Musiker*innen und Techniker überraschten uns mit künstlerischen
Feinheiten, bewegenden Momenten, Humor und menschlicher Größe. Das
Ganze war wie ein einziger großer Blumenstrauß, dargeboten vor
ausverkauftem Haus, wertgeschätzt und bejubelt von den vielen
unglaublich netten Schweden. Am Ende flossen dann Tränen ohne Ende,
alle lagen sich in den Armen, dann wurde getanzt… Und wieder
gepackt. Bei der spätabendlichen Feedbackrunde wurde nochmal
deutlich, wieviel dieses Projekt allen Jugendlichen bedeutet hat und
wie sehr sie an allen Herausforderungen gewachsen sind.
Unendlich erschöpft aber auch sehr beglückt kehrten wir zurück
nach Lübeck. Gefahren vom weltbesten Busfahrer, gesättigt vom
wunderbaren Küchenteam, das auch nach 14-Stunden-Tagen noch gute
Laune verbreitete, bereichert durch alle Erfahrungen. Was für eine
Tournee!
Wir danken allen Stiftungen und Förderern, die dieses Projekt
ermöglicht haben und werden diese Zeit nie vergessen.
Trix Langhans